Institut für Soziale Nachhaltigkeit

Wie wir es verlernt haben, uns eine bessere Zukunft vorzustellen

Lars Castellucci, 2024

 

Meine Eltern haben sich noch angestrengt, weil “der Bu” es einmal besser haben sollte. Und natürlich, weil sie dachten, Anstrengung lohnt. Das hat sich fundamental verändert. Doch solche Haltungen haben Menschen und unser ganzes Land nach vorne gebracht. Und wer nichts Gutes erwartet, für den wird das Schlechte selbstverständlich und die schlechte Laune dazu. Wie es der alte Seneca gewusst hat: Wer den Hafen nicht kennt, in den er segeln will, für den weht kein Wind günstig. Wie haben wir es nur verlernt, eine bessere Zukunft für möglich zu halten oder sogar für wahrscheinlich? Das will ich besser verstehen.

 

Nein, es ist nicht, weil gerade und zunehmend so viel los ist. Meine Mutter hat sich noch vor tieffliegenden Amerikanern in den Graben der elterlichen Gärtnerei geschmissen. Später war sie natürlich froh, dass die Amerikaner endlich da waren. Mein Vater hat mit nichts angefangen. Der Kalte Krieg drohte immer mal zu einem heißen zu werden. Terror und Flutkatastrophen gab es früher auch, fragt Helmut Schmidt. Ja, die heutigen Krisen sind vielfältig, erreichen uns in Echtzeit aus allen Teilen der Welt, dazu die Beschleunigung und Entgrenzung unseres Alltags. Aber ich halte es mit Niklas Luhmann, der 1987 gesagt hat: „Ich finde, dass unsere Gesellschaft mehr positive und mehr negative Eigenschaften hat als jede frühere Gesellschaft zuvor.“ Und wenn es eine menschliche Eigenschaft ist, die Vergangenheit zu idealisieren und sich Sorgen um die Zukunft zu machen, dann war das auch schon immer so. Es ist also grundsätzlicher.

 

1. Zunächst gibt es immer eine Spannung zwischen Pragmatikern und Visionären. Wem ist nicht Helmut Schmidts Aussage “Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen” in Erinnerung. Gerichtet – natürlich an Willy Brandt, 1980 im Bundestagswahlkampf.

Später hat Schmidt eingeräumt, was es war: “Eine pampige Antwort auf eine dusselige Frage”. Und ist doch bis heute das Lieblingszitat aller, die lieber über die zahllosen Fehler der Vergangenheit reden, als sich über Verbesserungen in der Zukunft Gedanken zu machen.

Oder die einfach beansprucht, beschäftigt sind: Sturmfluten, Terroristen, Wirtschaftskrise, keine Zeit für hochfliegende Gedanken. Alles wichtig. Das erfordert Haltung und gutes Management. Den Friedensnobelpreis bekommt man so allerdings nicht. Der ging an Willy Brandt.

Ich denke, gut wäre, yin und yang, eine Kombination, so etwas wie pragmatische Visionen oder besser noch visionäre Pragmatiker, wenn das geht.

 

2. Dann kommt das Jahr 1989. Die SPD verabschiedet ein neues Grundsatzprogramm. Im Vorwort zu einer Veröffentlichung mit anderen programmatischen Dokumenten schreibt der damalige Vorsitzende Rudolf Scharping im Jahr 1995: “Das Berliner Programm zeigt, (…), daß die Hoffnung auf fundamentale Alternativen und globale Lösungen nicht mehr zeitgemäß ist.”

Ein solcher Satz! In einem Vorwort zu einem programmatischen Text der SPD! Eigentlich Selbstaufgabe.

Aber machen wir uns noch einmal das Datum bewusst. 1989: Fall der Mauer, Untergang der Sowjetunion. Francis Fukuyama schrieb damals vom “Ende der Geschichte”. Verkürzt: Der Westen hat gewonnen. Was soll jetzt schon noch kommen?
Mir ist wichtig, dass wir erkennen, wie lange das Elend des Kleindenkens schon anhält. Es ist eine lange Entwöhnung, die nicht einfach zu korrigieren sein wird.
Im Programm selbst hieß es dann glücklicherweise: “Bloßes Fortschreiben bisheriger Entwicklungen ergibt keine Zukunft mehr.” Mittlerweile ist die Weltordnung, die man damals kommen sah, einer neuen Unordnung gewichen. Die Zeiten wenden sich, mal wieder. Wohin, sollten wir nicht nur beobachten oder erdulden, sondern neu in die Hand nehmen.

Natürlich gibt es immer wieder Anläufe für mutige und kraftvolle Zukunftsentwürfe. Ein Beispiel sind die Globalen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen. Sie beschreiben eine Agenda bis zum Jahr 2030, für deren Umsetzung alle Länder der Erde gemeinsam Verantwortung übernehmen.

Diese Agenda ist wahrlich nicht frei von Widersprüchen. Auch kann man ihr mit erheblichen Zweifeln begegnen, jeden Tag mit neuen Gründen, was die Ernsthaftigkeit ihrer Umsetzung betrifft.

Doch die formulierte Vision einer großen Transformation hat für mich große, ansteckende Kraft. Die ersten Sätze lauten:

“Wir sehen eine Welt vor uns, die frei von Armut, Hunger, Krankheit und Not ist und in der alles Leben gedeihen kann. Eine Welt, die frei von Furcht und Gewalt ist. Eine Welt, in der alle Menschen lesen und schreiben können. Usw.”

 

Das Problem mit Visionen ist aber 3., dass man sich auf sie einlassen muss. Das Dokument hat 38 Seiten. Wie sollen langfristig wirkende Entwürfe entstehen, wenn die Aufmerksamkeitsspanne von allen, die es von der Formulierung bis zur Umsetzung braucht, immer kürzer wird?

Einlassen aber auch in viel grundsätzlicherer Hinsicht: Wir alle lernen durch Unterscheiden, indem wir Dinge gegeneinanderstellen. Unsere Kultur ist stark durch die Dialektik geprägt und Denken lernen wir in der Schule anhand von Erörterungen, bei denen es darauf ankommt, zu jedem Argument ein kritisches Pendant zu finden. So weit, so gut.

Gleichzeitig gerät dabei die Suche nach Lösungen ins Hintertreffen. Präsentiert jemand eine Idee oder einen Lösungsvorschlag muss man auf das „Aber“ nicht lange warten. Dabei werden häufig gute Ansätze zertrümmert, bevor sie richtig entwickelt werden konnten. Nach dem Motto: Wenn das die Lösung ist, hätte ich gerne mein Problem wieder.

Wir sind besser darin, für jede Lösung ein Problem zu finden, als Lösungen für Probleme.

 

4. Es gibt auch eine Übersättigung an schön klingenden Formulierungen. Wir sind umgeben von einer hochglänzenden Werbewelt und erleben doch immer die Lücke zwischen ihren Versprechungen und der Wirklichkeit. Da wirkt ein Text schnell idealistisch, unrealistisch und löst keine neuen Hoffnungen aus. Vieles haben wir auch schon einmal gehört, so oder so ähnlich. Falls wir jemals dran geglaubt haben, irgendwann verlernt man es. Mindestlohn? Wie lange haben wir darauf warten müssen. Dann ist er da. Achselzucken. Betrifft mich vielleicht auch nicht.

 

5. Wir brauchen Visionen solcherart Substanz, dass sie nicht nur abstrakt wirken, sondern vielmehr konkret und erreichbar. Wozu, was und wie hängen zusammen. Es fällt auf, wie viele Bücher auf dem Markt sind, deren Autoren ihre geistigen Kapazitäten fast vollständig für eine Analyse verwenden, während der Ausblick schmal und inhaltlich dünn bleibt. Häufig liest man dort dann den Ladenhüter „Bedingungsloses Grundeinkommen“. Götz Werner konnte zu diesem Thema vor Jahren noch die Stadthallen füllen. Doch die aktuelle Diskussion um das Bürgergeld zeigt, wie sehr sich Stimmung und damit auch die Debatte verändert haben. Jetzt, wo niemand von Massenarbeitslosigkeit bedroht ist, ist die Solidarität mit Arbeitslosen und Hilfebedürftigen mal wieder auf einem Tiefpunkt. Da scheint es eher als ein großes Versprechen, weniger solidarisch sein zu müssen. Das Beispiel zeigt, unabhängig davon, ob man die Idee nun gut oder schlecht hält (ich halte sie ohnehin für schlecht), auch die Problematik, wenn Zukunftsversprechen gefühlte Ewigkeiten diskutiert werden, ohne dass Umsetzungsschritte spürbar werden.

 

6. Yuval Harari spricht in “Homo Deus” die Politiker direkt an und verweist auf die unterschiedlichen Geschwindigkeiten von Technologie und Politik. Seine These: „Gerade weil sich die Technologie heute so schnell entwickelt (…) denken Politiker in viel kleineren Dimensionen als ihre Vorgänger vor 100 Jahren.“ Also: Das Tempo erschlägt uns. Diese Kritik dürfen wir annehmen. Dass auch andere gesellschaftliche Bereiche ausfallen, macht es nicht besser.

Wir haben es mit einer komplizierten Gleichzeitigkeit von atemberaubendem Tempo und Erstarrung zu tun. Das droht, uns so sehr gefangen zu nehmen, dass kaum Platz für Zukunft bleibt. Und je weniger Ideen für eine bessere Zukunft durchdringen, umso attraktiver werden die Stimmen, die von der guten alten Zeit schwärmen. Ein Teufelskreis, den es zu durchbrechen gilt.

 

Vielleicht haben 7. auch einige insgeheim ein schlechtes Gewissen, so wenig zufrieden mit dem Erreichten und gefangen in Abstiegsängsten zu sein angesichts weithin verbreiteten Elends weltweit.

 

Vielleicht fällt 8. den Erben viel zu viel in den Schoß, so dass sie Wert und Wirkung eigener Anstrengung auf anzustrebende Ziele hin verkennen. Umgekehrt untergräbt die Vermögensverteilung im Lande längst das Leistungsprinzip.

 

Natürlich haben 9. viel zu viele einfach mit den Dingen des Alltags zu kämpfen und schlicht keinen Kopf für Zukunft. Die Schlangen vor den Tafelläden nehmen zu. Viele strengen sich an und kommen doch auf keinen grünen Zweig. Zwei Einkommen reichen heute manchmal nicht für den vergleichbaren Lebensstandard, den früher einer erwirtschaftet hat.

 

Schließlich 10.: Wo Menschen vereinzeln, Ehrenamt schwächelt, Parteien und andere Großorganisationen an Mitgliedern verlieren, da schwindet auch die Erfahrung der Selbstwirksamkeit und noch wichtiger: der Mit-anderen-Wirksamkeit. Dann lieber nicht so viel vornehmen. Dabei: Gemeinsam können wir viel erreichen. Ein banaler Satz. Aber eben auch wahr.

 

Es ist wahrscheinlich von alledem etwas und noch einiges anderes. Jedenfalls erntet erhebliche Gegenwehr, wer das Wort „Vision“ nur in den Mund nimmt.

 

Aber oft braucht es auch Gegenwehr, damit man die nötige Kraft aufnimmt, eine Sache voranzutreiben. Besser zu verstehen, wie wir verlernt haben, uns eine bessere Zukunft vorzustellen, soll uns helfen, wieder neu zu lernen, wie es gegen alle Widerstände doch gehen kann.

 

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